Stefanos Tsarouchas: DIE ANDERE HEIMAT - CHRONIK EINER SEHNSUCHT ist nach HEIMAT 3 eine weitere Zusammenarbeit mit Regisseur Edgar Reitz. Wie kam die eigentlich zustande?

Michael Riessler: Wie kam die zustande? Jetzt muss ich ziemlich weit zurück gehen. Ich kenne Edgar Reitz bzw. wir kennen uns schon relativ lange. Ich glaube, die Verbindung kam über Salome Kammer, mit der ich schon diverse Sachen zusammen realisiert habe.

S. Tsarouchas: Aus welchen Gründen wollte Sie Edgar Reitz für seinen neuen Film als Komponisten haben?

M. Riessler: Ich nehme in erster Linie an, weil er sich davon versprochen hat, die Musik zu bekommen, die ihm vorschwebte oder die dem möglichst nahe kommt, was er sich für den Film vorgestellt hat.

S. Tsarouchas: Wissen Sie, ob noch ein anderer Komponist im Gespräch war oder hat er ganz gezielt Sie ausgewählt?

M. Riessler: Ich glaube nicht, dass noch ein anderer Komponist im Gespräch war, aber das weiß man natürlich nicht. Wir haben aber schon seit sehr langem über diese Geschichte gesprochen haben und er mir auch schon sehr frühzeitig das Drehbuch gegeben. Im Grunde genommen war schon am Ende von HEIMAT 3 und nachdem die Zusammenarbeit dort wunderbar funktioniert hatte, ein bisschen der Weg dafür geebnet, dass ich höchstwahrscheinlich gefragt werde, wenn ein neues, großes Projekt kommt.

S. Tsarouchas: Wie würden Sie selbst Ihre Musik für DIE ANDERE HEIMAT beschreiben?

M. Riessler: Da müsste ich ein bisschen mehr ausholen, um zu sagen, was wir gesucht haben bzw. was wir alles ausschließen mussten. Es war klar, in welcher Zeit der Film spielt. Es war klar, es geht nicht darum, eine Musik zu finden, die den Reichtum dieser Zeit oder das, was wir an romantischen Gestus kennen, beschreibt, sondern genau das Gegenteil.  Es musste arm sein. Es musste einfach sein. Es musste trotzdem auch von den Instrumenten her etwas sein, was es in dieser Zeit hätte geben können. Es sollte in gewisser Weise eine Art Liedform sein mit einem Leitmotiv. Vielleicht sollten wir Leitmotiv hier sogar mit einem „d“ beschreiben. Es hat nämlich auch etwas mit Leiden zu tun. Und trotz aller Reduktion und Einfachheit sollte es eine Sehnsucht, eine Emotion transportieren, ohne Kitsch oder ein falsches Pathos zu kommen.

S. Tsarouchas: Man hätte das Ganze aber trotzdem auch mit Geigen machen können, ein bisschen sinfonischer – oder war das völlig ausgeschlossen?

M. Riessler: Wir haben natürlich über alles Mögliche geredet und in der Tat haben wir das relativ schnell verworfen. Es kommen zwar Geigen vor, aber die beschreiben eigentlich nur diese Art Traumwelt, die der Jakob hat. Ein großes romantisches Orchester wäre gleichbedeutend mit der Bourgeoisie, mit einer Gesellschaft, mit der der Film nichts zu tun hat. Dort werden Verhältnisse beschrieben von bitter armen Leuten auf dem Land und ein Sinfonieorchester dazu wäre grotesk.

S. Tsarouchas: Der Film ist fast vier Stunden lang und es gibt nur wenig Musik im Film zu hören – sei es von Ihnen komponierte Musik, von den Menschen in der Kirche oder von den Spielleuten bei dem Fest. Warum ist es so minimal geblieben?

M. Riessler: Es ist gar nicht so minimal, wenn man bedenkt, dass in den knapp vier Stunden immerhin fast 75 Minuten Musik drin sind. Sowohl typische Filmmusik, als auch szenische Musik. So extrem wenig ist es also nicht. Es ist nur ab und zu so, dass es so leise und subkutan ist, dass es vielleicht gar nicht auffällt. Aber wie viel Musik rein kommt, das ist nie die Entscheidung des Komponisten. Das ist immer die Entscheidung des Regisseurs.

S. Tsarouchas: Ich habe mir gestern noch einmal den Film als Stream angesehen. Ich war nicht bei der Pressevorführung und erinnere mich jetzt an die Szene mit dem Onkel, der stirbt. Da gibt es eine lange Kamerafahrt mit totaler Stille. Gab es bei solchen Szenen Diskussionen über die Musik? Warum nicht zum Beispiel in dieser langen Kamerafahrt Musik darunter legen?

M. Riessler: Ja, dafür gibt es viele Beispiele. Bei dieser Szene gab es überhaupt gar keine Diskussion. Es war völlig klar, man braucht keine Verdoppelung. Die Musik sollte auf keinen Fall so wie es in den allermeisten Filmen als reines Glutamat von irgendwelchen Bildern oder Emotionen benutzt werden. Also keine Verdoppelung! Denn die Schlichtheit und diese Stille sind viel stärker, als wenn man das noch einmal zusätzlich unterstreichen würde. Die Musik sollte nie prominent vordergründig Dinge transportieren, die in der Geschichte oder im Bild sowieso klar sind.

S. Tsarouchas: Sie haben eben gesagt, Sie können mehrere Beispiele geben. Können Sie ein bisschen mehr erzählen?

M. Riessler: Bei der Dampfmaschine, die immer schneller läuft und die dann bis zur Explosion kommt, gab es zunächst die Überlegung, das zu musikalisieren. Ich habe dann diverse Versuche gemacht, diverse Musiken vorgeschlagen. Wir sind dann aber zu dem Schluss gekommen, dass die Dampfmaschine an sich schon so eine reiche geräuschhafte, rhythmische Struktur hat, dass es überhaupt nicht nötig ist, das noch einmal zu musikalisieren. Andere Szene: die zwei Brüder, Gustav und Jakob, die sich verprügeln. Als der Jakob erfährt, dass der Gustav auswandern will und er dadurch dableiben muss, war geplant, diese Art von Konflikt durch eine Musik zu kommentieren oder zu unterstreichen. Wir sind dann auch dazu gekommen, dass es das nicht braucht. Dort, wo die Musik nicht notwendig ist, war es immer klar, dass wir sie weglassen.

S. Tsarouchas: Gab es auch Szenen, wo Sie für ihre Musik gekämpft haben? Dafür, dass die Musik drin bleibt?

M. Riessler: Weniger um die Tatsache, dass sie drin bleibt, mehr darum, wie sie klingt.

S. Tsarouchas: Zum Beispiel?

M. Riessler: Insgesamt gab es die Diskussion, welchen Raum die Musik im Film einnimmt. Also weniger darum wie oft, wie laut oder leise als wie diese Musik klingen soll. Wenn die Musik zu viel Raum bekommt, läuft der Klang ganz leicht Gefahr, pathetisch zu werden, und das war vielleicht die Befürchtung von Edgar Reitz. Ich habe mich eher an den Bildern orientiert. Die nehmen im Film einen riesigen Raum ein und ich dachte immer, zu den Bildern braucht es auch eine Musik, die entsprechend Raum hat. Die in sich wirken kann – und auch ohne Bild wirken kann. Da gab es die Diskussion, wie viel Raum die Musik verträgt.

S. Tsarouchas: Sie haben vorhin gesagt, dass Projekt hat einen sehr langen Beginn.

M. Riessler: Ich glaube, Edgar Reitz hat mit Gert Heidenreich zusammen bestimmt zwei Jahre lang allein an dem Drehbuch gefeilt. Dann gab natürlich unendlich lange Vorbereitungen, auch um das Dorf mit allem Drum und Dran aufzubauen. Während dieser ganzen Zeit haben wir uns immer wieder getroffen und telefoniert, um zu überlegen, was die Musik in dieser Geschichte machen kann. Ich würde sagen, vom Anfang der Idee, dass es einen neuen Film gibt und um welche Geschichte es geht, bis zur Premiere sind bestimmt für mich zwei, drei Jahre vergangen. Wobei für mich die Hauptarbeit ein Jahr dauerte.

S. Tsarouchas: Haben Sie schon anhand des Drehbuchs bestimmte Themen komponiert?

M. Riessler: Nein, aber natürlich Überlegungen gemacht, worum es geht. Es war natürlich auch für Edgar Reitz absolut klar, was er haben will und dass es diese zwei fast konträren Welten gibt. Einmal die Musik, die sehr nah an diesem Jakob ist. Die natürlich auch in einer Enge des Dorfes, in einer Enge der Räume, in einer Enge des Lebens in dieser Armseligkeit ist. Auf der anderen Seite diese ungeheure Sehnsucht nach einer grenzenlosen Freiheit, ob die in Brasilien ist oder sonst wo. Etwas, was zu tun hat mit einem Traum von einem besseren Leben, das komplett außerhalb dieser ganzen Szenerie ist, also zu einer ganz anderen Welt gehört. Das war klar, dass es diese zwei Antipoden gibt.

S. Tsarouchas: Mir sind drei, vier Sachen aufgefallen bei der Musik. Einmal so etwas wie Jakobs Thema, das sich durch die Musik durchzieht. Dann Akkordeon-Musik, wenn Henriette im Bild ist. Dann haben wir noch so etwas wie eine Art „Dschungelmusik“, wenn er im Buch liest. Das 13. Stück auf der CD, "Rastlos. schwebend", fällt etwas aus dem musikalischen Rahmen. Das sind Oboenklänge. Einzelne Töne, die nicht so recht zum Rest der Musik passen.

M. Riessler: Ich glaube, dass ist die Sequenz, wo eine Drehorgel rhythmische Impulse gibt und es sich komplett auffächert. Ich meine, dass kann man sehr weit interpretieren. Das gehört zu diesen Szenen, wo der Jakob rennt, wo er wegläuft, wo er in seiner eigenen Welt ist. Die nichts beschreibt, sondern die in Aktion ist.

S. Tsarouchas: Haben Sie mit Leitmotiven gearbeitet, mit Leitthemen und haben Sie bestimmte Instrumente bestimmten Personen zugeordnet? Wie das Akkordeon zum Beispiel für Henriette?

M. Riessler: Nein, absolut nicht. Praktisch die ganzen Jakob-Musiken in allen Variationen, in allen Schattierungen sind fast ausschließlich Bass-Klarinette und Akkordeon.

S. Tsarouchas: Mit welcher Szene haben Sie angefangen? Für welche haben Sie zuerst die Musik komponiert?

M. Riessler: Ich glaube, ich fing mit allem gleichzeitig an.

S. Tsarouchas: In dem Film selbst kommt Musik vor, die gespielt oder gesungen wird. Kommen die Stücke zum Teil von Ihnen? Waren es bereits fertige Stücke? Im Film werden sie zum Beispiel bei dem Fest oder wenn die Dorfbewohner tanzen von Personen gespielt. Haben Sie die Musik komponiert oder ist das originale Musik von der Zeit?

M. Riessler: Sowohl als auch. Der Background ist klar. Das ist ein Ländle, der tatsächlich existiert und der tatsächlich zu dieser Zeit dort hätte gespielt werden können. Aber die Übergänge, das Arrangement und vor allen Dingen die Verzahnung der Geschichte mit diesem eigenartigen Instrument, mit dieser Ofikleide. Das ist natürlich klar, dass man so etwas dann komponieren muss, weil es so etwas im Original nicht gibt.

S. Tsarouchas: Was ist mit den Liedern? Konnten Sie da Einfluss nehmen? Ich glaube, es gibt ein oder zwei Lieder, die Florine bei diesem Fest singt. Dann gibt es noch Lieder in der Kirche und noch ein anderes Lied. War das abgesprochen oder eine Entscheidung des Regisseurs?

M. Riessler: In erster Linie war das eine Entscheidung vom Regisseur. Der Text war klar und ich habe dazu die Musik geschrieben. Zum Beispiel die Werberlieder oder „Geliebte Heimat“, das Lied, das Florinchen singt, bevor diese Szene mit diesem großen Auswanderertreck kommt. Das sind Melodien, die ich geschrieben habe. Die es nicht so gibt. Andere, zum Beispiel von den Soldaten oder das Lied auf dem Floß, sind existierende Lieder, die entsprechend zum Text verändert werden müssten.

S. Tsarouchas: Inwieweit wurde dieser Score durch die anderen HEIMAT-Filme beeinflusst? Gibt es einen Zusammenhang oder so etwas wie einen roten Faden?

M. Riessler: Eigentlich nur insofern, dass auch jetzt in der ANDEREN HEIMAT alles ausschließlich mit Instrumentalklängen realisiert ist und dass es nichts gibt, was elektronisch erzeugt worden wäre. Alles ist genau so gespielt, ohne irgendwelche elektronischen Veränderungen oder Verfremdungen oder Tricks.

S. Tsarouchas: Sie haben eine Frauenstimme in Ihrer Filmmusik. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie singt einen Text, aber der ist für mich nicht verständlich.

M. Riessler: Ja.

S. Tsarouchas: Singt sie irgendetwas, dass ich nicht verstehe, weil ich die Sprache nicht erkenne?

M. Riessler: Ja, genau so ist es (lacht).

S. Tsarouchas: Und was singt sie?

M. Riessler: Es ist ein Alt-Brasilianisch, was absolut spekulativ ist und was ich mir zusammengesucht habe aus allen möglichen Quellen, die es so gibt. Wie es ausgesprochen wird, weiß ich so wenig wie wahrscheinlich andere auch. Aber genau das ist das Thema. So wie sich der Jakob sein Bild von Brasilien und dieser Sprache der Indianer im Film natürlich nicht nur frei erfindet. Aber es ist unerheblich, was die Bedeutung ist. Es ist ein fremder Klang.

S. Tsarouchas: Wie haben Sie die Musik gemacht, wenn Jakob in dem Buch liest? Für mich hört sich das fast wie Vogelgezwitscher an.

M. Riessler: Es ist in der Tat so, dass ich bei bestimmten Traumsequenzen ganz hohe menschliche Stimmen mit Vogelstimmen gemischt habe und zwar so, dass im Prinzip akustische Zwitter entstehen. So dass man nicht weiß, ob das Tierlaute, also Vogellaute sind oder menschliche. Es gibt mindestens drei Szenen, die so gemacht sind. Es sind Hunderte von Vögeln und ich weiß nicht mehr, wie viele menschliche Stimmen, bestimmt auch so an die 30, die so in sich gewoben werden und sich so mischen, dass man nicht mehr weiß, wo das herkommt. Das gibt es auch noch auf einer ganz anderen Ebene. Da gibt es ein paar Musiken, bei der sich die Bassklarinette und das Akkordeon dermaßen mischen, dass man auch nicht mehr genau weiß, wer ist wer. Das finde ich sehr reizvoll. Das verhindert gleich, dass man zu einem bestimmten Instrumentalklang zu viele eindeutige Assoziationen hat.

S. Tsarouchas: Bei mir war es manchmal beim Hören des Leierkasten und des Akkordeons so, dass ich manchmal nicht wusste, was ist was.

M. Riessler: Das ist sehr gewollt.

S. Tsarouchas: Was hat Sie an diesem Projekt gereizt? Das ist ja eine sehr lange Zeit, die Sie da mit reingebracht haben. Sie hätten ja in der Zwischenzeit viele andere Sachen machen können.

M. Riessler: Es ist immer reizvoll, an etwas Besonderem zu arbeiten. Was sich komplett dem entzieht, was man normalerweise so kennt und dadurch gibt es völlig andere Herausforderungen. Ich kann es noch allgemeiner sagen: Alles, was nicht alltäglich ist, und alles, was nicht Routine ist, was einen wirklich auf eine andere Art herausfordert, fasziniert. Dafür, denke ich, ist man Musiker und Komponist.

S. Tsarouchas: Warum komponieren Sie so wenig Filmmusik? Vielleicht besser gesagt selten?

M. Riessler: Ich habe eine Zeit lang wesentlich mehr gemacht. Ich habe eine Zeit lang auch einige Stummfilme vertont. Es ist nicht so, dass ich sage „Woa, das mach‘ ich jetzt.“ Es kommt natürlich auch darauf an. Man muss auch gefragt werden.

S. Tsarouchas: Ich finde jeder Komponist, jeder Musiker hat einen bestimmten Stil. Was für einen Stil haben Sie? Wenn ich Sie buchen will, was erwartet mich dann?

M. Riessler: Das kann man so überhaupt nicht sagen. Das kommt immer auf den Film an.

S. Tsarouchas: Ich glaube, dass Komponisten schon bestimmte Vorlieben haben und ich weiß, wenn ich z.B. Annette Focks nehmen würde, dann kommt wahrscheinlich etwas großes und sinfonisches heraus.

M. Riessler: Das kann man bei mir nicht wissen. Ich habe insgesamt vielleicht 50 bis 60 Hörspielmusiken geschrieben, die doch relativ unterschiedlich sind, weil die Vorlage bzw. der Text eine völlig andere Geschichte ist.

S. Tsarouchas: Sie haben auch die Musik für das Hörspiel „Der Herr der Ringe“ aus dem Jahr 1990 komponiert.

M. Riessler: Das war in erster Linie das Werk von Peter Zwetkoff. Ich war da zwar mittendrin und permanent dabei. Aber der Komponist zu sein, das würde ich mir nicht anmaßen.

S. Tsarouchas: Was unterscheidet Ihre Herangehensweise beim Komponieren für ANDERE HEIMAT von einer Stummfilmmusik wie für Asta Nielsens HAMLET?

M. Riessler: Das ist völlig eindeutig und klar: Bei einem Stummfilm können wir davon ausgehen – und so war es bisher bei allen Stummfilmen –, dass der Regisseur nicht mehr lebt. Man hat also kein Gegenüber mit dem man diskutiert. Sondern man entwirft sein eigenes Konzept und realisiert es dann. Das ist der Hauptunterschied.

S. Tsarouchas: Empfinden Sie die Grenzen des Mediums Film, also ich meine den Schnitt, die Absprache mit Produktion, Regisseur, Sounddesign usw. als Einschränkung? Man muss sich schließlich an einen bestimmten Rahmen halten.

M. Riessler: Das kann ich nicht allgemein sagen. Es ist klar, es ist keine Musik, die komplett losgelöst ist von allem. Die Musik ist dann gut, wenn sie in diesem komplexen Gesamtgefüge ihren entscheidenden Beitrag leistet. Da ist man nicht unbedingt immer im Konflikt, aber man ist tatsächlich ständig in der Diskussion mit den anderen Medien. Wenn ich ausschließlich Filmmusik machen würde, würde ich wahrscheinlich sagen, mir fehlt etwas. Ich brauche auch die Freiheit, die Musik einfach sich entwickeln zu lassen. Aber die habe ich ja. Ich bin auch Komponist und Musiker, der sogenannte "absolute" Musik macht, die nicht gebunden ist an etwas anderes.

S. Tsarouchas: Sie spielen auch selbst die Filmmusik mit ein. Warum?

M. Riessler: Das hat den großen Vorteil, dass man nichts erklären muss. Ich weiß, was ich da tue. Dazu kommt noch eins. In diesem Fall war klar, dass das Akkordeon und die Bassklarinette eine zentrale Rolle spielen. Bassklarinette deshalb auch, weil tatsächlich in dieser Zeit das Instrument erfunden wurde und das Akkordeon stammt auch aus dieser Zeit. Dann ist es natürlich absurd, wenn ich einen fantastischen Musiker und Freund nicht besetzen würde, mit dem ich viel Erfahrung im Zusammenspiel habe. Die Noten sind ja nur ein Vehikel. Das, was einen berührt, und das, was irgendetwas ausmacht, dass findet auf einer anderen Ebene statt. Das kann ich natürlich viel besser realisieren mit einem, den ich sehr gut kenne. Bzw. wenn wir uns beide sehr gut kennen und wissen, wie der andere reagiert. Das ist ähnlich wie im Film. Da ist nicht nur das Drehbuch. Da ist nicht nur die Geschichte mit allem Drum und Dran, sondern alles andere auch. Diese kleinen Feinheiten, die man manchmal gar nicht beschreiben kann.

S. Tsarouchas: War es schwierig, jemanden zu finden, der den Leierkasten spielen kann?

M. Riessler: Nein, ich bin seit vielen Jahren mit Pierre Charial befreundet, der ein ganzes Arsenal von verschiedenen Instrumenten hat. Wir konnten dann auch ein Instrument finden, was genau datiert auf diese Zeit passt.

S. Tsarouchas: Wie läuft bei Ihnen in der Regel der Kompositionsprozess ab? Brauchen Sie absolute Stille? Müssen Sie sich noch einmal die Szene anschauen, das Drehbuch noch einmal lesen? Wie funktioniert das bei Ihnen?

M. Riessler: Das kann ich gar nicht verallgemeinernd sagen. Das ist sehr unterschiedlich. Was mich wahrscheinlich unterscheidet von den meisten meiner Kollegen ist, dass ich nach wie vor mit Bleistift und Radiergummi schreibe und die Überlegungen so erst einmal auf eine wahnsinnig konventionelle Art zu Papier bringe und erst danach in der Verarbeitung dieses Materials den Computer und die neue Technik benutze. Aber ich komponiere nie mit dem Computer. Nie.

S. Tsarouchas: Haben Sie für den Film temporäre Musik benutzt?

M. Riessler: Nein.

S. Tsarouchas: Sie sind ja eher auch als Jazzmusiker bekannt. Würden Sie gerne für einen Film eine Jazzmusik schreiben und Ihre Richtung mit einbringen?

M. Riessler: Ja, aber ich würde es gar nicht meine Richtung oder eine andere Richtung nennen. Ich fühle mich tatsächlich als jemand, der mehrere Sprachen sprechen kann. Wenn der Film entsprechend etwas braucht, was mit Jazz zu tun hat, dann habe ich wahrscheinlich schon einen relativ direkten und schnellen Zugang dazu. Als Komponist ist aber eigentlich die Hauptaufgabe, sich in eine Geschichte oder in etwas Außermusikalisches einzudenken, einzufühlen und dann entsprechend eine Musik zu machen. Wenn der Film, das Hörspiel oder Bühnenstück im Mittelalter spielt, dann habe ich als Jazzmusiker dort erst einmal nichts zu sagen. Das Improvisieren ist natürlich etwas Wichtiges.

S. Tsarouchas: Wie würden Sie Filmmusik definieren?

M. Riessler: Musik zum Film

S. Tsarouchas: Welche Rolle sollte Filmmusik in einem Film haben?

M. Riessler: Das kann ich nicht allgemein sagen. Es gibt welche, die sagen, eine tolle Filmmusik ist es dann, wenn sie überhaupt nicht auffällt. Also wenn sie nur subkutan die Geschichte voranbringt oder Übergänge schafft und alles Mögliche.
Es kommt darauf an! Es kommt auf den Film an. Es kann absolut notwendig, es kann aber auch echt überflüssig sein. Es kommt total auf den Film an. Es gibt natürlich Filme, wo fast kein Dialog stattfindet, wo es dann nur die Kombination ist von Bildern mit Musik und Klängen. Mein eigener Anspruch ist, dass die Musik auch losgelöst von den Bildern, losgelöst von der Erzählung, losgelöst von dem Anderen für sich allein stehen kann und nicht wie die meiste Filmmusik, die gängige Filmmusik, eine Art von unerträglichen, pathetischen Gesülze ist.


Gekürzt und bearbeitet von Katharina Diekhof.