Dirk Lütter stellte seinen neuen Film DIE AUSBILDUNG im Rahmen der Berlinale 2011 in der "Perspektive Deutsches Kino" vor. Ausschnitte aus dem Interview wurden in der Sendung am 13. Februar 2011 verwendet.
Bettina Hirsch: Herr Lütter, Sie haben vorher ganz viele Kurzfilme gemacht, auch schon die ersten Preise bekommen: "First Steps Award" und "New Berlin Film Award", einen Dokumentarfilm gedreht. Das ist jetzt sozusagen Ihr Spielfilmdebüt . Worum geht es in Ihrem Film?
Dirk Lütter (lacht): Das ist diese Frage, die habe ich heute schon ein paar mal beantwortet. Also in dem Film geht es um Arbeitsstrukturen im Kapitalismus. Darum geht es im Kern. Es geht darum, wie diese Arbeitsstrukturen die Menschen und die zwischenmenschlichen Beziehungen dieser Menschen prägen, und sie zu bestimmten Handlungen drängen oder bringen. Im Mittelpunkt steht Jan, ein junger Auszubildender im letzten Ausbildungsjahr, der versucht sich durch den Verrat an seiner Vorgesetzten eine gute Position zu verschaffen, so dass er nach der Ausbildung übernommen wird.
B. Hirsch: Ich hatte den Eindruck, dass der Jan sich gar nicht bewusst ist, dass er seine Vorgesetzte verrät.
D. Lütter: Nein, ist er nicht, aber er ist auch nicht so blöd. Das ist für mich im Drehbuch auch schon immer eine Grauzone gewesen. So blöd ist er nicht, dass er das überhaupt nicht checkt, was dadurch passieren kann. Andererseits verdrängt er es halt, weil der Personalchef Tobias es Jan einfach leicht macht. Tobias spricht von Helfen, aber das es am Ende keine Hilfe ist, sondern es darum geht jemanden loszuwerden, der nicht den Vorgaben gemäß Leistung liefert, dass hätte eigentlich jeder scharf denkende Mensch ahnen können. Jan verdrängt diese Ahnung. Das ist für mich eher der Punkt, denn er ist nicht so blöde, dass nicht zu denken oder nicht wissen zu können.
B. Hirsch: Ich habe so ein bisschen gelesen, was Sie über den Film gesagt haben. Die Dialoge sind sehr, sehr kurz. Es sind ganz viele, auch das die Blicke mehr sagen in Ihrem Film und das es keine Gefühlsausbrüche gibt, sondern das der Zuschauer selber werten soll, wie die Kommunikation verläuft. Das würde ja jetzt passen, als ich gesagt habe: "Ich halte den Jan für unbedarft.", und ich glaube, dass er seinem Vorgesetzten auf dem Leim gegangen ist, also dass der Vorgesetzte unter dem Deckmantel sagt, er will helfen, versucht ihn zum Spitzel zu machen. Sie sagen jetzt, der Jan hat es gecheckt. Das sind ja schon mal zwei unterschiedliche Sichtweisen. Soll das so sein?
D. Lütter: Ja, also auf jeden Fall ist es mir wichtig, dass es in dem Film genügend Platz zum Denken gibt. Ich erhoffe mir dadurch, dass man dadurch seinen eigenen Lebenskosmos in dem Film hereinbringt, und diese Lücken, die bleiben, mit dem eigenen Leben füllt, mit Erlebnissen, die man vielleicht mal hatte, die in eine ähnliche Richtung gehen. Das ist mir eigentlich wichtig, dass ein Film einen Denkprozess im Zuschauer auslöst. Das tun sehr viele Filme aus meiner Erfahrung oder auch aus meinem Erleben her nicht. Sie manipulieren sehr stark in eine Richtung. Am Ende steht man da und fühlt sich, als ob man einen Hamburger gegessen hat. Sie tun es aber sehr unoffen, finde ich. Ich versuche einerseits einen Film zu machen, der seine Mittel offen legt, der auch mal Zeit lässt zurückzutreten, der Zeit lässt selber darüber nachzudenken. Natürlich manipuliert mein Film auch, durch ganz viele Sachen z.B. welche Geschichte setzte ich wie ins Bild. Das ist schon mal die erste Manipulation. Da kommt man nicht darum herum. Aber die Frage ist, wie viel Platz man dem Zuschauer lässt, und wie deutlich man das macht. Ich finde, viele Filme führen den Zuschauer wie so eine Kuh am Ring durch die Arena. Am Ende kann er wieder raus aus der Arena. ... Ich erlebe das oft bei sogenannten "Mainstream" Filmen und gucke sie deswegen schon gar nicht mehr, weil mich das ärgert. Ich komme mir da verarscht vor. Es findet statt durch Musikeinsatz, besonders stark, aber auch durch besonders starken Einsatz von Dialog, durch schnelle Schnittfolgen, durch sehr viele Nahaufnahmen, durch Lichtstimmungen, Bildstimmungen, die sehr in eine Richtung drängen. Das alles zusammen ergibt dann eben eine sehr starke Führung des Zuschauers und die aber nicht das Gefühl oft wirklich bewusst wahrnehmen, und das mag ich eigentlich nicht.
B. Hirsch: Sie haben es ja schon angesprochen, Thema Musik (D. Lütter: Ja.) Der Film ist ja sehr zurückhaltend, was Musik betrifft. Es kommt ein Chor ...
D. Lütter: Der Film hat 20 Musikstücke. Davon sind 15 im Einkaufszentrum. Das ist Musik, die aus den Shops direkt kommt, auch ein Musikstück zum Beispiel aus dem Fernseher zuhause bei Jan im Wohnzimmer. Es gibt in dem Film nur Musik aus den Quellen ... im Bild sozusagen. Es gibt keine darauf gesetzte Filmmusik ... Es gibt den Chor als eine Art fremdes Element, aber es gibt schon viel Musik in dem Film. Wir hatten zwei Komponisten, die haben die ganze Musik im Einkaufszentrum gemacht. Einer davon hat dann einen Song in der zweiten Discoszene gemacht. Das ist so ein Trance Discostück geworden und den Track aus der ersten Discoszenen haben wir lizenziert. Das ist ein bestehender Discotrack, und den habe ich schon sehr sorgfältig ausgesucht und auch bei der Kaufhaus und ... Fernsehmusik, die wir komponiert haben, war schon auch ein System dahinter. Wir haben zum Beispiel die ganzen Stimmen von Sample-CDs genommen, also der Musiker und dadurch hat diese ganze Musik, die im Kaufhaus läuft, etwas sehr gleichförmiges bekommen, weil die Leute auf diesen Sample-CDs sehr gleichförmig singen. Es hört sich alles gleich an auf eine Art, obwohl es unterschiedliche Stimmen sind, unterschiedliche Menschen, die da gesungen haben, oder gerappt, oder was auch immer und dazu eine Musik, die auf eine Art auch sehr gleich klingt, sehr formatiert, obwohl es verschiedene Genres sind, wie R & B, wie Elektrorock usw. Da steckt schon viel Gedanke in der Musik. Auch die Tracks in der Disco, da habe ich mir sehr genaue Gedanken gemacht. Der erste Discotrack, der hat ja auch so einen Text, der ganz schön daneben ist (lacht) Wenn man sich sich dazu mal das Video im Internet anguckt, das ist schon ganz schön haarsträubend und bringt aber dafür das Rollenverständnis, was heutzutage auf diesen ganzen Kanälen vermittelt wird, relativ gut zum Ausdruck, also von Mann und Frau. Man hat auf der anderen Seite dieses total perfekt produzierte, perfekt arrangierte, es war ein ziemlicher Mainstream Clubhit auch und ist so tight, dass man auch schon fast mittanzen will, also mir geht es zumindest so. Dieser Trancetrack wiederum bei der zweiten Discoszene, der ist sehr melodiös. Der hat schon fast was kitschiges, und ich finde, also ich habe persönlich auch ein Faible für Trance-Techno, diese Musik hat so etwas märchenhaftes finde ich. Das ist für diese Szene, dieses nicht Klaren, ist es jetzt ein Abschied zwischen den beiden oder kommen die jetzt wieder zusammen, dass setzt da wieder auch so etwas künstliches drauf, so etwas Romantisierendes eigentlich, aber immer noch in diesem Beatgerüst, das wiederum etwas formatiert Romantisierendes hat. Das ist zumindest, was ich darin sehe. Also deswegen gibt es eigentlich schon ganz schön viel Musik in dem Film, wo ich mir so meine Gedanken dazu gemacht habe. Das ist aber nie so ein klassischer Filmscore und zu den Chören, ja, die sind so ein Moment ... also diese Lieder haben ja eigentlich sehr naive Texte. Die sprechen von ... man soll sich nicht kaufen lassen, man soll jemanden lieben, nicht wegen dem Geld, sondern wegen der Liebe an sich, und die Starken sollen den Schwachen helfen. Das sind ja so die Grundaussagen dieser drei Texte. Im Film passiert von allem eigentlich das Gegenteil. Also ... Jan lässt sich kaufen. Jenny geht wegen dem Geld und der Sicherheit weg. Die Schwachen kriegen von den Starken in diesem Film auch keine Hilfe ... Das ist ja überhaupt schon eine sehr komische Aufteilung in Starke und Schwache. Das ist ja eigentlich auch schon so eine komische, weiß ich nicht, wer ist schon schwach? Wer ist schon stark? Wie wird man das? Also, ist eine sehr seltsame Einteilung von Menschen, finde ich schon mal und wo das Suchwachsein quasi schon zementiert wird, eigentlich dadurch.
B. Hirsch: Das ist der ökonomische Druck, der einen schwach macht.
D. Lütter: Ja, also die gesellschaftliche Position, die einen schwach macht. Da gehört der ökonomische Druck oder eigentlich die Herkunft auch schon sehr stark dazu. Klar! Das ist da, wo man steht. Es sind auch verinnerlichte Ohnmachtsgefühle, also über Jahrhunderte generiert.
B. Hirsch: Hat das autobiografischen Charakter? Sie sind in Neuss geboren, aber in Erfstadt aufgewachsen, eine Vorstadt von Köln.
D. Lütter: Genau, ist 20 Kilometer westlich, eine Schlafstadt kann man es eher nennen.
B. Hirsch: Einfamilienhausreihensiedlung.
D. Lütter: Genau. Das classic West-Germany und ... ja, ich komme aus kleinbürgerlichen Hintergrund, Mittelschicht und ja, auf jeden Fall hat jetzt alles einen autobiografischen Hintergrund. Ich komme jetzt nicht aus gewerkschaftlichen Hintergrund. Im Gegenteil! Also, so etwas, wie sich zu wehren oder Aufstand zu machen, ist in meiner Familie jetzt nicht so Thema gewesen.
B. Hirsch: Also, Sie hätten sich so eine Mutter gewünscht?
D. Lütter: Also nicht zwingend!
B. Hirsch: ... die Gewerkschaftlerin ist.
D. Lütter: Die ist ja auch nicht so einfach, (lacht) die Mutter von Jan. Die ist ja auch irgendwie ein Drachen (lacht) auf ihre Art, finde ich.
B. Hirsch: Sie spielt jetzt gar nicht so eine große Rolle.
D. Lütter: Nein.
B. Hirsch: ... eher in ihrer Position als Gewerkschaftlerin eine Rolle.
D. Lütter: Ja, aber trotzdem ist sie jemand, die ja auch dem Jan jetzt nicht mit viel Verständnis entgegentritt in diesen Abendessenszenen oder die da auch eher bohrt, als jetzt liebevoll nachfragt. Sie ist ja auch in ihrer Rolle gefangen auf eine Art.
B. Hirsch: Ich würde mal ganz gerne über den Jan sprechen, über die Hauptfigur. Sie haben für den Film Recherche gemacht. Sie sind auf dem Land unterwegs gewesen, in den Landjungenddiskos und in den Einkaufszentren und haben die Jugendlichen interviewt und 200 Jugendliche gecastet, bis Sie auf den Joseph Bundschuh gekommen sind.
D. Lütter: Ach, lustigerweise war erschon in der ersten Runde dabei, aber so ist das ja immer (lacht).
B. Hirsch: Der hat ja so ein bisschen Poker-Face.
D. Lütter: Kann man so sehen (lacht)
B. Hirsch: Ganz viele Gesichtseinstellungen in dem Film, Close ups und ... guckt einen immer mit seinen blauen Augen an. Man weiß nicht genau, was ist jetzt los mit dem.
D. Lütter: Das sehen viele unterschiedlich. Es gibt auch Leute, die sagen, die sehen, dass ganz viel in dem los ist. ... Mir ist es wichtig, dass man das Gesicht nicht so besetzt mit einem, auch hier wiederum Thema Manipulation, mit einem starken Ausdruck, der einem sagt: "Okay, der ist jetzt traurig! Der ist jetzt böse. Der ist jetzt verliebt. Der ist jetzt sonst etwas. Der hat Angst", sondern diese Gefühle werden in den Proben angelegt und es gab auch ein Schauspieltraining vorher mit der Daniela Holtz, die da ... die ganze emotionale Seite der Rollen ziemlich gut unterfüttert hat, und dann kommt da der Deckel drauf. Also das, ich will es eigentlich da nicht mehr sehen.
B. Hirsch: Obwohl der Joseph ein Profi ist
D. Lütter: Was heißt Profi? Er hat es nicht gelernt, aber er ist natürlich aus einer Schauspielerfamilie und hat schon Rollen gespielt, aber er ist kein ausgebildeter Schauspieler, kann man mit 20 gar nicht sein und ... was beim Joseph dazu kommt, ist eigentlich aus meiner Sicht genau so wichtig, wie das sein Vater Schauspieler ist, dass er Trommler ist. Das heißt, er hat ein ausgeprägtes Rhythmusgefühl und ein wahnsinnig hoher Konzentrationsvermögen. Diese Sachen zusammen, ergeben diese Fähigkeit, die ihn für mich so unglaublich passend gemacht hat für diese Rolle und … um auf dieses Pokerface zurückzukommen, also für mich ist es kein Pokerface, sondern für mich ist es eine Fassade, die Gefühle versteckt, aus Angst, wenn man diese Gefühle zeigt, dass man dann verliert oder dass man dann keine Chancen mehr hat oder entgleitet oder nicht mehr funktioniert und ... es geht mir ja auch gar nicht so sehr darum, ... ich will keine individuellen Menschen zeigen. Darum geht es mir nicht. Es geht mir darum ... so eine Art ... Stellvertreter zu zeigen, in die sich der Zuschauer mit seinem eigenen Erleben hineindenken kann. Also, wo Platz ist für den Zuschauer an sich und nicht für dieses Individuum, das besonders individuell ist und jetzt da auf der Leinwand dies und das und jenes macht. Deswegen versuche ich eben auch die emotionalen Ausdrücke auch bei allen Schauspielern, nicht nur bei ihm, aber bei ihm besonders, weil er irgendwie andauernd im Bild ist, zurückzunehmen, so weit es geht, aber nicht zu viel, weil sonst bleibt so gar nichts mehr. Das ist eine schwierige Gratwanderung, die kann auch manchmal nach hinten losgehen und ... also so als Vorbild sehe ich da zum Beispiel den Fassbinder, der ... das auf eine andere Art ja auch gemacht hat, finde ich. Also in diesen Gesichtern passiert bei ihm ja auch selten viel, finde ich und trotzdem, also das war für mich ein Schlüsselerlebnis als Teenager als ich diese Filme von ihm im Fernsehen gesehen habe, in der Wiederholung spät nachts, auf den öffentlich-rechtlichen damals. Das war echt, so habe ich gedacht: 'Wau! Was sind das für Filme! DIe sind ja mal endlich gute Filme.“ ... und habe es auch gar nicht verstanden, warum ich sie mag oder was mich daran so fesselt. Das hat sich dann aber über die Jahre in meiner eigenen Arbeit fortgesetzt. Ich habe dann irgendwann auch, glaube ich, zumindest zu verstehen, was dahinter steckt: Nämlich die Möglichkeit als Zuschauer zurückzutreten und selber zu denken und eben nicht, sich total von dieser emotionalen individuellen Handlung vereinnahmen zu lassen.
B. Hirsch: Der Fassbinder war ja ein ziemlicher Kontrollfreak. Das heißt ja dann ...
D. Lütter: Ich auch (lacht)
B. Hirsch: ... man denkt immer, diese Kommunikation bei den Fassbinder‑Filmen, machen die Schauspieler selber. Stimmt aber gar nicht! Das ist alles vorgegeben. Wie war das bei Ihnen?
D. Lütter: Wie? Improvisieren? Das gibt es nicht.(lacht)
B. Hirsch: Das heißt also, dass steht alles so im Drehbuch. So wird es auch gespielt.
D. Lütter: Es kann noch mal Änderungen bei der Probe geben, wenn man merkt, jetzt o.k., jetzt kommt so ein Satz, der fällt dem Schauspieler oder der Schauspielerin aus irgend einem Grund total schwierig den so zu sprechen. Da können dann Wörter verändert werden, aber inhaltlich wird nichts verändert und wenn der Satz dann auch einmal festgelegt ist, bleibt der so. Also improvisiert wird gar nichts. Ich habe das tatsächlich in dem Film zweimal probiert und das ist voll nach hinten losgegangen und ich mag das nicht. Das ist eine ganz andere Arbeitsweise. Das würde sich auch aus meiner Sicht mit dem Widersprechen, das ich ja igentlich versuche zu entindividualisieren, weil in dem Moment, wo die Leute improvisieren, individualisieren sie ja auch.
B. Hirsch: Sie haben den, darf ich den Oberfiesling nennen ...
D. Lütter: … ist der so fies, der Tobias?
B. Hirsch: ...der Tobias, derjenige, der jetzt sozusagen am Hebel sitzt und entscheidet, wer bleibt und wer geht. Den haben Sie besetzt mit dem Stefan Rudolf ...
D. Lütter: Ja.
B. Hirsch: Stefan Rudolf hat ja in GLÜCKLICHE FÜGUNG einen ziemlichen Fiesling gespielt.
D. Lütter: Ich finde ihn in GLÜCKLICHE FÜGUNG keinen Fiesling.
B. Hirsch: Er spielt sehr seltsame Rollen.
D. Lütter: Ja, er spielt nie sympathische Rollen, auch bei GISELA. Da habe ich Ihn zum ersten Mal gesehen. Da hat er auch so einen komischen Vogel gespielt. Ja, das ist die Rolle Tobias. Die war auch nicht leicht zu besetzen. Was mich letztlich am Stefan überzeugt hat, war, der ist ja in der Realität überhaupt nicht so. Der ist ja eigentlich ein ganz netter, gemütlicher Kerl, also so ein Familienvater, und der ist ja gar keinen Fiesling, bestimmt hat er einen Teil, auch so eine komische ...
B. Hirsch: Das haben wir jetzt unterstellt.
D. Lütter: ... so eine Klassifizierung von Menschen. Also der hat bestimmt auch Anteile an sich, sonst könnte er diese ganzen Rollen nicht spielen, die er so kriegt, aber im Alltagsleben ist der überhaupt nicht so. Was ich interessant fand, war, er hat ausladende Körperlichkeit, bewegt sich immer viel und redet eigentlich ...
B. Hirsch: ... so einen Schatten um die Augen herum ...
D. Lütter: Ja, den hatte er, das stimmt.
B. Hirsch: Also, das macht natürlich in den Diskussionen, die er da führt, da hat er so etwas dunkles.
Dirk Lütter: Ja, er hat etwas vom Typ her etwas dunkles, das stimmt. Er redet eigentlich auch gar nicht so. Er redet eher so ganz nett und gemütlich, und ich fand es interessant ihn in so eine Rolle zu zwingen, die ihm sogar nicht entspricht, also nämlich so viel zu reden. Diese Texte, die haben ihn wahnsinnig gemacht. Das fand ich interessant, also dass ihm das quält, weil ich wollte das den Tobias der Beruf auch quält, dass es etwas ist, er macht das, er ist in dieser Rolle als Personalchef gekommen, aber es macht ihm keinen Spaß. Das war mir ganz wichtig. Ich hoffe, dass es rüber kommt. Ich weiß nicht, ob es es tut. Er ist auch nur ein Rädchen. Er ist jetzt auch nur einer der Fäden zieht und er auch gezogen wird. Das setzt sich halt fort, und das habe ich versucht hauptsächlich in der Szene nach der zweiten Disco auch zu zeigen, dass er auch ein Mensch ist. Also als er dieses Gespräch mit seiner Freundin hat, am Telefon, und er relativ betrübt wirkt und dann auch dem Jan, das mit der Mutter sagt, wo man auch sagen könnte, o.k., er macht das aus Berechnung, aber das ist für mich auch nicht so eindeutig. Ist das Berechnung? Oder denkt er da wirklich, er muss es dem Jan sagen? Er muss ihn warne?. Das überlasse ich auch dem Zuschauer, also für mich jetzt auch diesen Warnungscharakter, weil er guckt danach ziemlich traurig. Also er ist nicht fies dabei, finde ich. Das können andere wieder anders sehen.
B. Hirsch: Also für mich war es noch fies.
D. Lütter: Also er wird auch unterschiedlich gesehen. Ich habe mal so eine Probesichtung gemacht. Da haben dann ein paar gesagt, der depressive 'Hoffmann'. Das hat mir sehr gut gefallen, weil das eigentlich das ist, so eine Richtung, die ich mir für ihn gewünscht habe. Also, dass er eben leidet unter dieser Arbeit, die er da tut und sie trotzdem tuen muss, weil sie damit zusammenhängt, damit er diese Karriere machen kann und diesen Status haben kann, deswegen habe ich ihn genommen, weil er diese Reibung hat. Ich hatte viele andere gesehen, die waren mir zu 1:1 mit ihrem zackigen Spiel und beim Stefan gab es irgendwie diese persönliche Reibung mit dieser Rolle und das fand ich gut.
B. Hirsch: Ist es ein Coming-of-Age Film? Er läuft in der Rubrik Perspektive Deutsches Kino. Warum läuft er nicht in der Rubrik Generationen?
D. Lütter: Das weiß ich nicht (lacht). Wir haben den Film eingereicht, und dann haben sie ihn da genommen und da war ich froh. Ich weiß es nicht, dass haben die wohl so entschieden. Wir haben den Film in verschiedene Rubriken eingereicht. Dann kam sehr schnell die Zusage von der Perspektive. Ich war froh und habe ja gesagt. Ich finde, dass ist für mich auch nicht ein reiner Coming-of-Age Film, weil, was ist das schon, ein Coming-of-Age Film. Ich bin da kein großer Fan von. Wenn man einen Film macht über einen Zwanzigjährigen, hat man immer irgendwie einen Coming-of-Age Film. Das ist ganz klar, aber in der Regel werden in Coming-of-Age Filmen junger Menschen gezeigt, die Hürden überwinden und am Ende selbstständig und eigenständig denken und leben können. Das halte ich für einen großen Unfug. In meinem Film passiert das auch nicht und deswegen ist für mich dieses Genre Coming-of-Age Film auch ein ganz komisches Genre. Also für mich ist es ein Film, der versucht wirklich eher das Genre Ökonomie-Film eröffnen zu wollen, Filme die, mir ist es wirklich wichtig, einen Film zu zeigen wie Strukturen von einer kapitalistischen Arbeitswelt, das ist mir wichtig! Dass es ein Zwanzigjähriger geworden ist, hat für mich hauptsächlich den Grund, dass dieser Übergang zwischen der Schulzeit zum Arbeitsleben durch diese Ausbildung markiert wird. Was lernt man in der Ausbildung? Was ist das? Wo führt die hin? Zu was wird man überhaupt ausgebildet, um dann später auch weiterhin zu funktionieren? Deswegen ist es ein junger Mann geworden und nicht um ein Coming-of-Age Film zu machen.
B. Hirsch: Die Zielgruppe des Films, was wünschen Sie sich?
D. Lütter (lacht): Oh! Wünschen kann man sich immer viel! Wünschen tue ich mir, dass junge Leute gucken, die schon in das Berufsleben gestartet sind oder kurz davor stehen, also Schüler oder Leute zwischen 15 und 25, aber sowieso alle. Realistisch betrachtet wird es nicht so sein, denn ich habe weder einen Star, noch erzähle ich in den hergebrachten Erzählformen in der überwiegend Filme, das Maß der Filme erzählt wird. Also sprich, 99 % wahrscheinlich aller Filme, die so laufen und die es gibt. Von daher wird der Film sicherlich kein großes Publikum finden. Das wäre ein großes Wunder.
B. Hirsch: Aber er ist mit dem WDR produziert, also das heißt ...
D. Lütter: im Fernsehen auf jeden Fall, spät halt.
B. Hirsch: ... dann wenn die Jugendlichen nicht mehr auf sind.
D. Lütter: ... die Jugendlichen gucken eh kein Fernsehen mehr, die gucken Internet (lacht) oder RTL. Von da her, nein, also ich versuche mir eigentlich meine Zielgruppe zu kreieren, weil ich habe mit dem Film, wenn er ausgewertet wurde im Kino, im Fernsehen, noch einiges vor. Ich will, das ist noch nicht spruchreif, zu Ende durchdacht aber ich denke mal, wenn die Leute nicht zum Autorenfilm kommen, muss der Autorenfilm zu den Leute kommen. Ich bin da gerade am überlegen. Ich würde gerne eine Reise mit dem Film organisieren, der mit einer Art, hoffentlich auch Seminar zusammenhängt, über Film sehen. Wie wirkt Film? Wie denke ich, dass Film wirkt? Letztlich versuchen, da den Zuschauern etwas nahe zubringen. Da habe ich verschiedene Institutionen im Visier um den Film an Menschen zu bringen, die den normalerweise nicht sehen würden. Das versuche ich, aber das wird erst in einem Jahr der Fall sein. Solange dauert es mindestens bis er über all durch ist.
B. Hirsch: Was ist das nächste Projekt?
D. Lütter: Ist das schon in der Tüte? Nein. Es liegt noch nicht als Drehbuch vor. Das hätte ich ja gar nicht geschafft. Ich habe mich mit dem Film so viele Jahre beschäftigt und habe natürlich nebenher mein Drehbuchstudium, noch ein Treatment auf die Beine gestellt, aber da ist dann keine Zeit ein anderes Drehbuch zu schreiben. Ideen sind eigentlich nie das Problem. Das Schwierige ist die Umsetzung in ein Drehbuch, in eine Form, die dem Ganzen gemäß ist. Es bleibt beim Thema Arbeit. Arbeitssucht ist in einer Form mein nächstes Thema und Arbeit und Familie. Da versuche ich das zusammenzubringen. Es gibt auch noch andere Ideen, die sich ein bisschen wegbewegen von Arbeit in größere gesellschaftliche Kontexte. Globalisierung ist für mich ein Thema, der Gegensatz von reichen Ländern zu armen Ländern oder auch Gegensatz Reich/Arm in Deutschland. Da würde ich auch gerne einen Film über die Klassengesellschaft machen, für den ich mir auch schon jeweils Konstellationen ausgedacht haben. Also, welche Menschen, welche Protagonisten da welche Rollen spielen könnten, in welcher Reibungen miteinander geraten. Das wird bei Themen bleiben, die sich sozusagen letztlich immer um Ökonomie drehen. Das ist eigentlich mein Dreh‑ und Angelpunkt.
Stefanos Tsarouchas: Warum eigentlich ein männlicher Hauptdarsteller?
D. Lütter: Weil ich ein Mann bin! (lacht)
S. Tsarouchas: Das Gleiche würde ja genauso gut mit einer Frau funktionieren.
D. Lütter: Hätte es! Das stimmt natürlich, aber ich habe mir gedacht 'Schuster bleib bei deinen Leisten!'. Also es ist mein Debütfilm. Ich habe den Joseph auch unter anderem nicht nur wegen seinem Können ausgewählt, weil er mir nicht unähnlich ist. Er hat einen Tag vor mir Geburtstag. Er ist schlank wie ich. Er ist körperlich ein bisschen schlank usw. Also er ist, wir denken manchmal reichlich ähnlich. Es ist einfach leichter einen Debütfilm zu machen jemandem, mit einem Protagonisten, mit einer Figur, wo man denkt sich auszukennen, und ich bin nun mal keine Frau. Der nächste Film soll eine Frau als Hauptrolle haben. Da werde ich aber auch wahrscheinlich eine Frau zum Drehbuch hinzuziehen, zum Schreiben. Ich finde es schwierig über etwas zu schreiben von dem ich gar keine Ahnung haben. Die nächsten Projekte werden dass immer mehr sein. Dinge, von denen ich persönlich keine Erfahrung habe, aber ich will mich da langsam annähern, weil das ist schwierig. Da kommt man schnell in klischierte Fahrwasser, wenn man sich Themen nähert, mit denen man keine eigenen Erfahrung hat. Deswegen habe ich für den Debütfilm mir etwas ausgesucht, wo ich das Gefühl habe, da kenne ich mich zu einem gewissen Grade aus.
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